Von Narziss und Narzisse

Von Narziss und Narzisse

16. Mai 2020 0 Von Helmut Wittmann

Als Narziss wird ein Mensch bezeichnet, bei dem sich alles nur um sich selbst dreht. Die Anderen sind bestenfalls Randerscheinungen, die das eigene Selbst schmücken. Wie ausgiebig man narzisstische Neigungen ausleben kann, lässt sich auf Facebook und Instagram bewundern. Der Narzissmus ist aber eine uralte menschliche Regung. Was hat das jetzt mit der Narzisse zu tun? – Eine Sage aus dem antiken Griechenland beschreibt das anschaulich.

Nymphen sind feenhafte Naturgeister. Sie sind liebreizend, aber mitunter auch leichtfertig. So ließ sich vor Zeiten ei-ne Wassernymphe namens Leiriope mit dem Flussgott Kephissos ein. Das Liebespiel blieb nicht ohne Folgen. Die Nymphe wur-de schwanger und setzte einen Sohn in die Welt. Den nannte sie Narziss.
Um den kleinen Narziss drehte sich jetzt alles. Seine Mutter vergötterte ihn ganz und gar. Ja, sie war selig vor Verzü-ckung, wenn sie nur seinen Namen aussprach – Narziss! – Bei ihren Nymphen-Freundinnen war es nicht anders. Der Kleine war ihr Herzallerliebstes, ihr ein und alles – so schön, so lieb, so gescheit.
Der weise Seher Teiresias aber prophezeite: Der Knabe wird nur solange ein langes und gutes Leben haben, solange er sich selber nicht erkennt. Solange er sich also nicht selbst in einem Spiegel sieht.
Teiresias war berühmt dafür, dass er in seinen Sprüchen un-fehlbar war. Aber die Zeit verging, und kein Mensch dachte mehr an seinen Spruch.

Alle aber sprachen davon, wie gut, wie liebreizend und wie gescheit der Narziss war. Der Knabe wuchs heran und glaubte das mit der Zeit natürlich auch selber. Er hörte es ja Tag für Tag von allen, also war es für ihn ganz selbstverständ-lich – so und nicht anders!
Es priesen ja nicht nur die Nymphen seine Vorzüge in den höchsten Tönen. Sogar die Fische und auch die anderen Lebe-wesen sangen das hohe Lied vom Narziss.

So hörte das auch die alte Medusa. Die Medusa war früher selber so schön gewesen wie keine andere. Dann aber hatte sie die Göttin Athene in einem ihrer Tempel beim Liebesspiel mit Poseidon, dem Meeresgott, überrascht. Das ärgerte die Athene derart, dass sie die Medusa in ein abgrundtief häss-liches Ungeheuer verwandelte: In eine Bestie, die am Kopf statt Haaren Schlangen hatte. Aus ihrem Maul ragten lange Schweinshauer. Sie hatte einen Schuppenpanzer, bronzene Ar-me, glühende Augen und eine´ Zunge, die weit aus ihrem Maul hing. Auch die Medusa hatte einen Sohn. Der aber war keine Schönheit. Nein, er war ganz das Gegenteil vom Narziss.
Umso mehr ärgerte sich die Medusa, wie sie jetzt hörte, dass alle nur in höchsten Tönen vom Narziss redeten. In ihr stieg ein gewaltiger Neid auf. Ja, ihr Hass auf den Narziss war schließlich so groß, dass sie ihn verfluchte:
»Narziss, so wie mir meine Schönheit Verderben brachte, so soll auch dir deine Schönheit Unglück bringen.«, rief sie aus, »Sobald du dein Spiegelbild siehst, wird das dein Ver-derben sein.«
Den Fluch hörten die Fische. Die erzählten gleich der Leiri-ope davon. Die Nymphe überlegte nicht lange. Als fürsorgli-che Mutter ließ sie alle Spiegel vernichten. Die Scherben wurden in den Fluss geworfen. Jetzt war der Leiriope leich-ter.
Der Narziss wuchs also wohlbehütet und hochgepriesen heran zu einem stolzen Jüngling.
Einmal war er auf der Jagd. Da sah ihn die Nymphe Echo – und verliebte sich auf der Stelle in ihn.

Die Nymphe Echo aber, hatte ein Problem.
Zeus, der Gott aller Götter, hatte ihr vor Zeiten ange-schafft, sie solle Hera, seiner Frau, Geschichten erzählen. So war seine Frau beschäftigt, und er – Zeus – hatte Zeit für Liebes-Abenteuer mit anderen Frauen. Die Nymphe Echo tat, wie es ihr gesagt worden war.
Zu ihrem Unglück entdeckte Hera den Plan. Wen wundert’s, dass sie furchtbar empört war. Gleich stellte sie die Nymphe Echo zur Rede. Die verteidigte sich: Sie hatte ja nur einen Befehl ausgeführt.
Das besänftigte die Hera aber ganz und gar nicht: »Hör zu«, sagte sie zur Nymphe: »Du führst also nur Befehle aus!? – Dann sollst du auch künftig nur mehr das wiederholen können, was dir gesagt wird.« Das war der Fluch!

So war es also von da an. Und das war das Problem der armen Bergnymphe Echo. Jetzt sah sie den Narziss und war verliebt in ihn. Aber wie sollte sie ihm sagen, wie gern sie ihn hat-te?
Sie schlich ihm durchs Unterholz nach und überlegte hin und her: Was tun? Da bemerkte sie der Narziss und rief:
»Ist wer da?«
»Da! Da!« kam von der Echo zurück.
»Na, dann – komm!«, rief Narziss.
»Komm! Komm!«
»Warum meidest du mich?«, fragte er.
»Meidest du mich? Meidest du mich?«,
»Lass uns doch da zusammenkommen!«
»Da zusammenkommen! Da zusammenkommen!«, wiederholte die Nymphe Echo. Mit ausgestreckten Armen ging sie durch den Wald auf den Narziss zu.

Und jetzt scheiden sich die Geister:
Manche sagen, dass sie Narziss abwies. Er war enttäuscht von ihr, als er sie sah, und verschmähte sie.

Eine anderer Erzählstrang berichtet aber, dass sich die Zwei fanden. Ein Narziss und eine wunderschöne Frau, die alles wiederholt was er sagt, das passt ja wohl nicht schlecht zu-sammen.

Die Zwei waren also glücklich miteinander und wollten heira-ten.
In der Nacht vor der Hochzeit wünschte sich die Nymphe vom Narziss, er möchte ihr doch für den Brautkranz von unten am Fluss Blüten der Traubenkirschen holen. Die würden ihr be-sonders gut gefallen.
Das machte der Narziss gerne für sie.
Wie er aber im Mondschein die Blüten pflückte, da schaute er ins Wasser – und sah sein Spiegelbild. Ach, war das schön!
Auf der Stelle vergaß er alles um sich herum. Glückselig be-trachtete er nur mehr sein Spiegelbild. Ja, er war nicht mehr wegzubringen vom Flussufer. Vergessen waren die Braut und die Hochzeit, die Mutter, der Vater sowieso, da war nur mehr er, der Narziss – und sein Spiegelbild.
Es heißt, er blieb dort, starr versunken in die Betrachtung des eigenen Spiegelbilds. Mit der Zeit schlug er Wurzeln. Und irgendwann wurde er zur Blume – eben zur Narzisse.

Wunderschön blüht die Narzisse auf den Bergwiesen. Sie betört auch mit ihrem Duft. Pflückt man sie aber und nimmt sie mit ins Haus, dann ist sie zwar schön anzuschauen, ihr Duft aber, der ist im Raum schnell zu viel des Guten. Er macht auf Dauer keine Freude sondern Kopfweh.

Hier gibt es die Sage zu hören – in oberösterreichischer Mundart.