Vom Wundergarten

Vom Wundergarten

25. Dezember 2022 0 Von Helmut Wittmann

Es ist immer wieder erstaunlich, wie Märchen-Motive durch die Welt wandern: Aschenputtel taucht schon im alten Ägypten auf. Den Hans im Glück gibts nicht nur in Deutschland und Österreich, sondern auch in Kurdistan. Frau Holle wird motivgleich in der Mongolei erzählt. Motive Steirischer Zaubermärchen sind unverkennbar in den vedischen Überlieferungen des alten Indien zu finden.
Die »Oberösterreichische Nachrichten« haben angefragt, ob es für die Weihnachtsausgabe ein Märchen zum Thema »Nachhaltigkeit« in den Sinn kommen würde. Hier ist nun die alpenländische Fassung eines Märchens zu lesen, dass seine Wurzeln in Zentralasien hat.
Zu hören ist die Geschichte in meinem Podcast »Geschichten~weise« auf Spotify, Apple Music und überall wo es sonst noch Podcasts gibt:

Vor langer, langer Zeit, war’s gestern, oder war’s heut, da lebten einmal zwei Freunde, der Hans und der Max. Alle zwei waren sie Bauern, und alle zwei hatten sie kein leichtes Schicksal:
Dem einem wie dem anderen war die Frau gestorben. So bewirtschaftete der Hans den Bauernhof, die Wiesen und Felder zusammen mit seiner Tochter, der Marie. Der Max aber hatte eine große Schafherde. Mit ihr zog er über die Berge und durch die Täler. Sein Sohn, der Vinzenz, half ihm dabei.

Einmal aber wurden sie mit ihrer Schafherde im Gebirge von einem Wintereinbruch überrascht. Der viele Schnee und die Kälte waren so schlimm, dass die Tiere eines nach dem anderen verendeten. Jetzt waren die Not und die Verzweiflung groß und guter Rat teuer.

Der Max ging mit seinem Sohn schließlich hinüber zum Hof vom Hans und sagte zu ihm: »Lieber Freund, bestimmt hast du schon gehört, welches Unglück uns getroffen hat. Unsere Schafe sind fast alle umgekommen. Die, die uns noch geblieben sind, reichen nicht zum Überleben. Was sollen wir anderes tun, als die paar Schafe und den Hof zu verkaufen und anderswo in der Welt unser Glück zu versuchen.«
»Mein lieber Freund, was redest du da?«, meinte der Hans. »Wir sind uns gegenseitig schon in vielen schwierigen Situationen beigestanden. So werden wir’s auch jetzt halten: Unsere Felder und Wiesen, aber auch der Wald, werfen genug ab, dass wir alle miteinander davon leben können, wenn wir nur wollen. Am Fleiß mangelt es weder dir noch mir, und auch unsere Kinder tragen das ihre dazu bei. So werden wir schon über die Runden kommen.«
»Nein«, sagte der Max, »gerade weil ich weiß, wie hart das Leben hier ist, wollen wir es euch nicht noch schwerer machen und zur Last fallen.«
»Das tut ihr auch nicht«, sagte der Hans, »wir haben Grund genug zum Bewirtschaften. Weit draußen im Land liegt auch noch der Heideboden brach. – Ihr behaltet euren Hof und bewirtschaftet einige Felder und Wiesen von uns, die an euren Besitz grenzen. Wenn ihr euch dann wieder erfangen habt von eurem Verlust, sehen wir weiter.«

Der Max und der Vinzenz spürten, wie ernst es dem Hans war. Obendrein stand auch die Marie zu dem, was ihr Vater vorschlug. So nahmen sie das Angebot dankbar an.

Mit den Schafen, die ihnen geblieben waren, kamen sie noch gut über den Winter. Kaum aber, dass im Frühjahr der letzte Schnee geschmolzen war, machten sie sich fleißig ans Werk. Das Ackern am Feld war für den Max und den Vinzenz freilich eine ungewohnte und anstrengende Arbeit. Der Hans half ihnen dabei mit Zugtieren aus.
Als sie wieder eine tiefe Furche in den Ackerboden zogen, stieß der Pflug auf etwas Hartes. Gleich machten sich die zwei daran den Stein, der da offenbar im Weg war, auszugraben. Aber wie staunten sie, als eine massive, mit Eisen beschlagene Kiste, zum Vorschein kam.
Sie putzten die Erde weg und hoben den Deckel: Da leuchtete ihnen Gold entgegen. Das hatte wohl jemand in Kriegszeiten vergraben, um es vor Räubern und plündernden Soldaten zu verbergen. Schnell gruben sie auch den Rest der Kiste aus und schleppten sie hinüber zum Hof vom Hans und der Marie.
»Schau her, mein lieber Freund«, meinte der Max zum Hans, »ihr seid jetzt reiche Leute! Auf eurem Grund haben wir ein Vermögen gefunden.«
»Nein«, lachte der Hans, »da täuscht du dich, mein Lieber: Ihr habt die Schatzkiste auf dem Grund gefunden den ihr bewirtschaftet. Sie gehört also euch.«

Nach alldem was der Hans schon für sie getan hatte, konnte und wollte der Max dieses Geschenk nicht annehmen. »Du hast schon genug Größe bewiesen!«, meinte er. »Jetzt ist es an uns Größe zu beweisen: Den Schatz haben wir auf eurem Grund gefunden, also gehört er euch.«

So begann ein Streit, der hin und her ging und bei dem kein Ende herausschaute. Endlich meinte der Hans: »Und was ist, wenn wir diesen Schatz unseren Kindern vermachen? Mir scheint, dass sich der Vinzenz und die Marie schon lange recht gernhaben. Wenn sie wollen, dann sollen die zwei doch heiraten. So gibt es einen einzigen großen Besitz und der Schatz ist Teil davon.«

Tatsächlich hatten sich die Marie und der Vinzenz schon lange angefreundet. Viel hatten sie miteinander unternommen und entdeckt, dass sie im Grunde ein Herz und eine Seele waren. Sie wussten aber auch, wie stur und starrköpfig ihre Väter sein konnten. Jetzt, wo der eine den Vorschlag gemacht hat, wollte der andere nicht nein sagen. Die Marie und der Vinzenz aber, schauten sich freudig an, umarmten sich, und die Hochzeit war damit beschlossen.

Gleich nach der Hochzeit aber, meinte das junge Paar: »Unser Glück ist groß – und durch den Schatz, den wir bekommen haben, konnten wir ein großes Hochzeitsfest ausrichten, Tiere ankaufen und auf unseren Höfen wieder alles instandsetzen, was notwendig war. – Jetzt ist aber immer noch reichlich von dem Gold übrig. Das wollen wir mit den anderen teilen.«
Da staunten die Väter nicht schlecht. »Und wer soll entscheiden, was mit dem Gold geschieht?«, fragte der Max.
»Die Sali, die im Sommer droben auf der Alm wirtschaftet, ist eine gescheite und verständige Frau. Sie soll entscheiden, was damit geschehen soll«, meinte die Marie.
Der Hans und der Max wunderten sich sehr, dass die Jungen den Rest vom Gold so leicht aus der Hand geben wollten. – Aber gut, das war ja nicht mehr ihre Angelegenheit.

So zogen alle vier bald darauf hinunter ins Tal zu der Sali. Die war fleißig bei der Arbeit. Rund um sie herum waren viele Mägde und Knechte, die gerne auf ihren Rat hörten und wussten, wie geschickt sie war und dass man von ihr viel lernen konnte. Der Vinzenz und die Marie hatten sie im Sommer oft auf der Alm besucht. Jetzt zeigten sie ihr den Rest vom Schatz und fragten sie um ihren Rat:
»Was sollen wir mit diesem Gold tun, damit viele Menschen etwas davon haben?«
»Na, was meint ihr?«, rief die Sali in die Runde. »Was kann man mit so viel Gold tun, um vielen Leuten eine Freude zu machen?«

»Ganz einfach«, rief einer, »sie sollen ein großes Fest geben, bei dem jede und jeder nach Herzenslust essen und trinken kann. Damit machen sie nicht nur dem Wirt, sondern auch allen anderen eine große Freude.« Viele nickten und lachten zustimmend. Ja, so ein Fest, das wäre eine schöne Sache!

»Nein«, meinte eine andere, »sie verteilen das Gold besser an die, die es wirklich brauchen – die Armen und die Bettler. Es ist für alle gut, wenn die Not und die Armut im Land gelindert wird.« Auch da nickten einige zustimmend.

Ein alter Mann meinte: »Wenn sie jetzt nicht wissen, was tun mit dem Gold, dann sollen sie es doch einfach wieder vergraben – und zwar an einer Stelle, die gut versteckt ist und die nur sie kennen. Kommt dann wieder einmal eine Notzeit, dann können sie alle anderen daran erinnern, das Gold wieder auszugraben. Damit ist gut vorgesorgt und allen gedient.« Auch bei diesem Wunsch nickten etliche Leute zustimmend.

Da meldete sich eine junge Magd: »Ist es nicht gescheit, wenn sie für das Geld Pflanzen und Samen kaufen, und damit draußen in der Gstetten vor dem Tal einen Garten anpflanzen? Bei dem, was dort wächst und gedeiht, dürfen dann alle zugreifen und ernten.«
Da wurden die Leute hellhörig. Ein zustimmendes Murmeln machte die Runde.
»Ja«, sagte die Sali, »so ist das Geld wohl am besten angelegt.«
Auch das junge Paar war begeistert von dem Vorschlag. Allerdings wartete zu Hause die Arbeit.
Wer also sollte die Samen und die Pflanzen einkaufen?

»Das machst am besten du, Lena«, sagte die Sali zur jungen Magd, »du hast die Idee gehabt, also mach dich auf in die Stadt, um alles, was du für den Garten brauchst, zu besorgen.«

Und so zog die junge Lena bald darauf mit dem Gold im Rucksack in die Stadt.

Dort herrschte am Markt ein turbulentes Gedränge. Hier würde sie die richtigen Pflanzen für einen prächtigen Garten bekommen.

Da entstand plötzlich ein großer Wirbel. Die Menschen wurden zur Seite gedrängt. Reiter zogen durch den Markt auf das königliche Schloss zu. Mit sich führten sie große Wagen mit Käfigen. Darin waren Vögel zu sehen. Viele von ihnen waren prächtig und bunt gefiedert, aber man konnte sehen, dass sie immer wieder verzweifelt versuchten der Gefangenschaft in den Käfigen zu entkommen. Federn flogen durch die Luft und schwirrten herum. Ein furchtbares Krächzen und schrilles Pfeifen war zu hören. Der Lena ging der jämmerliche Anblick durch und durch.

»Was habt ihr denn mit den Vögeln im Sinn?«, fragte sie den Reiter, der voran ritt. Er war offenbar der Anführer des Ganzen. »Na was schon?«, erwiderte der sichtlich genervt, »die sind für den König bestimmt. Die einen werden ihn durch ihren Anblick und mit ihrem Gesang erfreuen. Die anderen landen wohl auf der königlichen Tafel.«
»Seht ihr denn nicht, wie verzweifelt die Vögel sind?«, fragte die Lena.
»Das mag schon sein«, sagte der Anführer, »aber gleich haben wir sie abgeliefert und bekommen für sie gutes Geld. Dann ist das alles nicht mehr unsere Sache. Was sollen wir uns also um die Vögel kümmern?«
»Und wenn ich euch die Vögel abkaufe?«
»Du?«, meinte der Mann spöttisch. »Nett gemeint, aber geh mir lieber aus dem Weg!«
Da leerte die Lena das Gold aus dem Rucksack vor dem Reiter auf die Straße. »Reicht das?«, fragte sie dann.
Jetzt machte der Reiter große Augen. Er gab einem anderen einen Wink. Der musste das Gold für ihn zählen. Als er fertig war, meinte der Reiter: »Du willst die Vögel also wirklich kaufen?«
»Ja«, sagte die Lena, »nehmt das Geld und lasst sie frei!«
»Dein Wunsch ist mir Befehl!«, lachte der Reiter. Er nahm das Geld und gab Anweisung, dass die Vögel alle freigelassen werden sollten.

War das ein Schwirren, Singen, Flattern und Tirilieren! Im Nu waren die Vögel auf und davon.

Die Lena aber packte zusammen und machte sich wieder auf den Heimweg.

Kaum aber, dass sie draußen war aus der Stadt, da ging ihr das, was sie gerade getan hatte, noch einmal durch den Sinn:
»Was ist mir da nur eingefallen?«, sagte sie sich. »Die guten Leute haben mir ihr Geld anvertraut, um einen blühenden Garten zu bekommen, und ich habe dafür Vögel freigekauft! – Was werden die Leute im Dorf sagen, wenn ich mit leeren Händen zurückkomme?«

Am Weg kam die Lena zu der Stelle, wo sich vor dem heimatlichen Tal eine karge Einöde ausbreitete. Nachdenklich setzte sie sich unter einen dürren Baum:
Jetzt erst merkte sie, wie müde sie war. Sie lehnte sich zurück und war gleich darauf auch schon eingeschlafen.

Im Schlaf hatte sie einen eigenartigen Traum:
Von weit weg kam am Himmel eine Wolke auf sie zu. Zuerst war sie nur als kleiner Fleck zu sehen. Der wurde schnell größer und weiter. Einzelne Punkte waren erkennbar. Es waren Vögel, die da geflogen kamen. Ja, es war eine Unmenge von Vögeln – und sie flogen alle auf sie zu.
Einer landete vor ihr, hüpfte auf ihre Füße und begann in einem sonderbaren Singsang zu zwitschern:

»Mitleidige Lena, verlier nicht den Mut,
das, was du getan hast, das war gut!
Die Vögel, die du befreit hast, wissen,
dass sie dir dafür ihr Lebtag lang danken müssen!

Richte dich auf und schau nur was geschieht,
wie in der Einöde ein Garten erblüht!«

Im nächsten Moment landeten die Vögel und begannen am Boden zu scharren.

Die Lena richtete sich auf und rieb sich verwundert die Augen. War das ein Traum oder geschah es wirklich?

Jetzt erst sah sie, dass die Vögel in ihren Schnäbeln Samen, Körner und auch kleine Pflanzen trugen. Die legten und steckten sie mit viel Geschick in den Boden. Dann scharrten sie die Erde wieder drüber. Manche nahmen auch ihre Flügel zur Hilfe. Drauf flogen sie fort um bald wiederzukommen.
Manche brachten in ihren Schnäbeln sogar ein paar Tropfen Wasser mit. Damit benetzten sie Pflanzen und Samen. Und – oh, Wunder! – das alles begann in der Einöde zu wachsen. Bald blühte da, wo gerade noch verdorrtes Gras gewesen war, eine Wiese mit duftenden Blumen und Kräutern. Bäume schossen in die Höhe. Sie trugen Äpfel, Birnen, Zwetschken und Marillen. Dazwischen waren Stauden und Ranken mit Himbeeren und Brombeeren. Ein kleines Paradies gedieh und blühte heran.


(Illustration von Agnes Ofner, aus dem Band »Das Geschenk der zwölf Monate – Märchen, Bräuche und Rezepte im Jahreskreis, Tyrolia Verlag)

Die Lena konnte das alles noch gar nicht so recht fassen. Dann aber machte sie vor Freude einen Juchzer und eilte zurück ins Dorf. »Kommt mit!«, sagte sie zu den anderen »Schaut, was durch euer Gold entstanden ist!«

Als sie zum Garten kamen, rieselten da auch schon kleine Bäche zwischen den Bäumen. Das Wasser sprudelte glasklar aus Quellen, als ob es nie anders gewesen wäre. Vergnügt ließen sich die Leute in der blühenden Pracht nieder. Tief atmeten sie den Duft der Blüten und Kräuter. Von Zeit zu Zeit griffen sie nach einer der vielen Früchte und ließen sich den frischen Geschmack auf der Zunge zergehen.

Bald kamen von weitum die Menschen um die Pracht im Garten zu bewundern und von den herrlichen Früchten zu essen. Obst, Gemüse, Beeren und Kräuter, dazu die sprudelnden Bäche: Der Garten war nicht nur eine Augenweide, sondern auch ein Glück für alle, die hungrig und durstig waren.

Dabei hatte der Garten einen ganz eigenen Zauber:
Seine wirkliche Pracht konnten nur Menschen mit einem offenen Herzen sehen. Andere, die von Habgier getrieben kamen um tüchtig zuzulangen und an sich zu raffen, was sie nur irgendwie in die Hände bekamen, sahen nur einen verwilderten Garten mit sonderbaren Bächen und eigenartigen Stauden. Die wirkliche Fülle blieb ihren Augen verborgen.
Manche schimpften, dass das wohl ein übler Zauber sei. Andere wiederum meinten, dass sei das Geheimnis der Fülle des Lebens: Sie erschließt sich nur Menschen mit einem offenen Herzen.