Von Schlangenfrau und Wundermann
Über die Faszination alpenländischer Volksmärchen und Sagen
Ein Beitrag für die Zeitschrift des Steirischen Volksliedwerks – »Der Vierzeiler«.
Volksmärchen und Volksmusik haben viel gemeinsam: Ihre Wurzeln reichen weit zurück. Generationen von Menschen haben das Ihre dazu beigetragen, dass sie inhaltliche Tiefe genauso bekommen haben wie herzerfrischende Leichtigkeit. Entscheidend aber ist, ob darin – noch – das Feuer der Begeisterung lodert.
Kein Mensch steht auf Musik, die einfach nur »alt« ist. Niemand will eine Geschichte hören, die aus vergangenen Zeiten erzählt und dabei schon Staub angesetzt hat. Immer zählt das, was hier und jetzt rüberkommt – ob die Musik noch begeistert, ob die Geschichte etwas zu sagen hat.
Oberflächlich gesehen erzählen Volksmärchen von einer Welt, die es heute so nicht mehr gibt. Da haben Königinnen und Könige das Sagen, Drachen verwüsten Landstriche, Feen helfen dem Wunder auf die Sprünge, Riesen, Zwerge, Hausgeister und Nixen treten mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit in Erscheinung.
So fremd das alles auf den ersten Blick anmutet, so schnell wird aber auch spürbar, wie tief diese Archetypen immer noch in uns verwurzelt sind. Und wie sehr sie uns helfen, das gegenwärtige eigene Leben besser zu verstehen.
Denn Märchen leugnen die Herausforderungen des Lebens nicht. Nein, ganz im Gegenteil: Sie beschreiben die Aufgaben der Heldinnen und Helden oft als schier unlösbar. Aber sie schildern eben auch, wie es gelingt damit erfolgreich umzugehen.
So zeigen Märchen spannende Wege zu einem glücklichen Leben.
Nehmen wir das steirische Volksmärchen »Von der Schlangenjungfrau«[1]: Da wird die oberflächliche, missgünstige Fürstentochter zu dem, was sie eigentlich ist: Eine Schlange. Erlöst werden kann sie nur durch die unvoreingenommene Herzlichkeit eines Menschen, der nicht an der Oberfläche hängen bleibt und einen Blick hat für ihr eigentliches Wesen.
Der Wundermann verzaubert die Menschen im gleichnamigen Zaubermärchen[2] durch seinen Gesang. Ein machtbesessener, egozentrischer Graf will diesen Mann und seinen Gesang ganz für sich haben. Deshalb sperrt er ihn ein. Der Sohn des Grafen aber lässt ihn wieder frei. Daraus entwickelt sich ein massiver Vater-Sohn-Konflikt. Zugleich wird der Wundermann in der Wildnis des Lebens zum Lehrmeister des Grafensohnes. Es zeigt sich: Nur durch die Lernfähigkeit und Beständigkeit des Jungen kommt ein glückliches Ende in Sicht.
Eine andere Kostbarkeit aus dem alpenländischen Märchenschatz ist das Volksmärchen »Vom Hahnengiggerl«[3]: Im Motiv klingt hier das »Rumpelstilzchen« an. Allerdings wird das Märchen unverkennbar »steirisch« erzählt und greift eine entscheidende Frage auf:
Gibt es etwas im Leben, das wert ist die Seele dafür zu verkaufen?
Die verzweifelte Heldin, die Annerl, hat dank einer Hexe, der Waldmutter, einen Geist gerufen, den Hahnengiggerl. Er ist bereit, ihr und ihrer Mutter aus der Armut zu helfen. Allerdings stellt er die Frage: Was gibst du mir, wenn ich dich reich mache?
Die Antwort der Annerl bringt ihr Dilemma in klaren Worten auf den Punkt: »Was soll ich dir geben!? – Ich hab‘ doch nichts. Sonst wäre ich ja nicht da!«Drauf er: »Doch, du hast etwas: Deine Seele!« Was jetzt? Soll die Annerl dem Hahnengiggerl ihre Seele wirklich geben?
Besonders bei Erzählprojekten an Schulen ist das eine spannende Frage. Im alltäglichen Spektakel der Medien wird uns immer wieder vor Augen geführt, dass Menschen ihre Seele oft recht billig hergeben. Aber ist es das wirklich wert?
Hier in Mitteleuropa wachsen Kinder meist sehr behütet auf – Gott sei Dank! Gerade deshalb sind sie aber auch umso neugieriger auf die heiklen und schwierigen Herausforderungen des Lebens. Das Märchen ist dafür die ideale Spielwiese. Inspiriert durch seine Geschichten fällt es leicht zwischen den Generationen über schwierige Themen wie Krankheit, Tod, Krieg, Gewalt, Ausbeutung, gegenseitige Hilfe, Ungerechtigkeit, Gerechtigkeit und das, was ein erfülltes Leben und den Sinn darin ausmacht, zu reden.
Das Märchen hält dem Leben einen Spiegel vor und taucht dabei tief ins Unterbewusste ein.
Anschaulich zeigt es, wie schwierig, wie grausam und wie ungerecht das Leben mitunter sein kann. Dabei bleibt das Märchen aber nicht stehen. Anders als die Nachrichten im Fernsehen und viele Clips im Netz zeigt es auch Auswege und Lösungen.
Allerdings liefert das Märchen keine fertigen Antworten. Es regt vielmehr unser schöpferisches Denken an.
Mit den Heldinnen und Helden der Geschichten erleben wir aussichtlose Situationen und mühsame Wege zu Zielen, die oft in weiter Ferne liegen. Immer aber flüstert uns das Märchen dabei zu: »Geh deinen Weg. Vertraue der Welt – und du wirst von ihr angenommen!«
Und unverhofft taucht eine Gestalt auf – eine Fee, ein Zwerg, eine Waldfrau oder ein Tier. Oft prüft diese Gestalt, ob denn die Heldin oder der Held es wirklich ernst meint und sich am Weg auch selber treu bleibt.
Im Zaubermärchen »Vom Wasser des Lebens«[4] zieht ein junger Bursch aus, um für seine Mutter eben dieses Wasser zu holen. Vor allem aber will er auch seinen Vater finden. Der kam von der Suche nach dem Lebenswasser nicht zurück. Am Weg muss sich der Bursch entscheiden:
Geht er dem furchtbaren Gebrüll, das er hört, nach? Oder läuft er davon?
Hilft er einem erschöpften, alten Mann? Oder lässt er ihn am Weg zurück?
Soviel sei verraten: Eben weil er dem Gebrüll nachgeht und den Streit einer Ameise, eines Adlers und eines Löwen erfolgreich schlichtet und weil er dem alten Mann hilft, bekommt er die Kraft, die Fähigkeit und das Wissen um das Wasser des Lebens zu erlangen. Das alles erspart ihm aber nicht die eigentliche Herausforderung – die ist eine seelisch-geistige. Das klassische Volksmärchen macht uns nichts vor. Das Leben ist nicht immer Liebe, Sonne, Eierkuchen. Es ist auch oft nicht leicht den eigenen, höchstpersönlichen Weg zu gehen und sich dabei selbst treu zu bleiben. Aber das Märchen zeigt anschaulich, dass es wert ist, sich auf das Abenteuer Leben mit aller Kraft einzulassen.
Kurz: Das Märchen ist zeitlos, erzählt von wesentlichen Herausforderungen des Lebens und bietet dafür Lösungswege an.
Bei der Sage ist das ganz anders.
Sie wurzelt in der Tradition des Mythos und hat geographische und historische Anker. Oft erklärt sie, warum etwas früher anders war und jetzt so ist wie es eben ist: Wie die Pest aus Wien verjagt wurde, wie in der Steiermark der Erzberg entstand[5], warum am Dachstein, am Hochkönig oder am Wiesbachhorn, wo früher fruchtbare Almen waren, jetzt der Gletscher herunterleuchtet[6], wie die Hexen am Schöckl das Wetter brauen [7], was der Kaiser Karl im Untersberg macht, und und und … .
Die Erklärungen der Sage sind allerdings meist keine, die den vordergründigen Verstand befriedigen. Auch sie reichen weit ins Unterbewusste, Fantastische. Dabei klopfen sie menschliche Unzulänglichkeiten und Fehler auf ihre Konsequenzen ab: Das Schwelgen im Überfluss und gnadenlose Gier auf den Almen am Dachstein, der Rausch der riesenhaften Macht am Erzberg und bösartige Missgunst am Schöckl.
So optimistisch das Märchen mit seinen originellen Lösungsansätzen ist, so drastisch ist die Sage, wenn sie dem Paradies von einst, den Alltag von jetzt gegenüberstellt.
Freilich gibt es da auch diese wunderbare Sage vom Traum von der Brücke. Sie taucht nicht nur in Österreich in einigen Bundesländern auf, sondern auch in vielen anderen Weltgegenden. Eine Fassung aus dem Salzkammergut schildert das so:
Am Grundlsee lebt eine Bauernfamilie in bitterer Armut. Einmal drückt sie die Not besonders schwer. Sie wissen nicht, wie sie über den Winter kommen sollen.Da träumt der Bauer eines Nachts, dass ein Zwerg zu ihm sagt: Geh, auf Gmunden, stell dich dort auf die Traunbrücke und warte bis dich jemand anspricht. Dem Bauern geht der Traum tags darauf immer noch durch den Sinn. Der Weg vom Grundlsee nach Gmunden ist ihm aber viel zu weit. Erst recht bei der winterlichen Kälte. Die Nacht darauf hat er den gleichen Traum wieder. Eigenartig, denkt er sich.In der dritten Nacht träumt er den Traum noch einmal. Jetzt erzählt er seiner Frau davon. Die rät ihm nach Gmunden zu gehen. Das tut er dann auch. Er steht also auf der Traunbrücke. Ihm ist bitter kalt. Leute kommen und gehen. Kein Mensch spricht ihn an. Der Bauer ärgert sich mehr und mehr über seine Dummheit dem Traum zu folgen.
Schließlich beschließt er wieder heimwärts zu ziehen. In diesem Moment spricht ihn einer an und fragt, was er denn da mache? – Da erzählt der Bauer von seinem Traum. Drauf lacht der Fremde nur und meint: »Was bist du nur für ein Depp! Ein Traum bedeutet doch gar nichts! Mir träumt auch oft etwas. Neulich erst hat mir geträumt, dass am Grundlsee ein Bauer haust. Den drückt die Not hinten und vorne. Dabei ist unter seinem Ofen ein Topf voll Gold vergraben!«
Was folgt, kann man sich denken. Die Bäuerin ist fassungslos, als ihr Mann unter dem Ofen zu graben beginnt. Noch mehr schaut sie aber, als ein Topf voll Gold zum Vorschein kommt.
Ja, das sind die Geschichten, die wir in diesen Zeiten so gut brauchen können, wie einen herzhaften Jodler: Märchen und Sagen, die auf fantasievolle Weise Lust machen dem eigenen Traum zu folgen.
Verzeichnis der Quellen:
[1] zu hören im Podcast »Geschichten~weise« auf www.steadyhq.com
[2] zu hören im Podcast »Geschichten~weise« auf www.steadyhq.com
[3] nachzulesen in »Von Drachenfrau und Zauberbaum – Das große österreichische Märchenbuch«, Helmut Wittmann, illustriert von Anna Vidyaykina, erschienen bei Tyrolia
[4] nachzulesen in »Das Geschenk der zwölf Monate – Märchen, Bräuche und Rezepte im Jahreskreis«, Ursula, Heidemarie und Helmut Wittmann, Innsbruck, 2018
[5] nachzulesen in »Sagen aus der Steiermark«, Robert Preis, Innsbruck, 2017
[6] nachzulesen in »Sagen aus Oberösterreich«, Helmut Wittmann, Innsbruck, 2008
und in »Salzburger Sagen«, Innsbruck 2010
[7] nachzulesen in »Sagen aus der Steiermark«, Robert Preis, Innsbruck, 2017