Von Aschenputtel und siebenkröpfigem Hans

Von Aschenputtel und siebenkröpfigem Hans

9. April 2022 0 Von Helmut Wittmann

Die Gestalten des Märchens und ihre Wirkung im alltäglichen Leben.
Ein Beitrag für das Magazin der PH Oberösterreich zum Thema »Diversität«.
Von Menschen, die unter ihrer Lebenssituation leiden, durch einen wesentlichen Impuls aber zu einem glücklichen Leben finden.

Zu hören ist der Beitrag kostenlos im Podcast »Eine inspirierende Geschichte« hier auf Steady und hier auf Spotify. ~

»Kindern erzählt man Märchen, damit sie einschlafen. Erwachsenen, damit sie munter werden.«, hat es Jorge Bucay sinngemäß formuliert.

Das Schöne daran ist: Das Märchen hält sich nicht mit Unwesentlichem auf. Punktgenau visiert es die Brennpunkte des Lebens an. Und das bei aller Unterschiedlichkeit der Heldinnen und Helden seiner Geschichten:
Der siebenkröpfige Hansl wird im gleichnamigen oberösterreichischen Märchen wegen der sieben Kröpfe »rund um den Kopf« verspottet. Im Märchen »Vom Hahnengiggerl« gilt es für die junge Heldin, die himmelschreiende Armut zu überwinden. Und im Märchen »Von den drei Kaufleuten« heißt es für eben diese Kaufleute, mit fremden Gebräuchen zurecht zu kommen.

Das Märchen interessiert sich vor allem für die Außenseiter. Für die, die alltäglich erleben müssen, von den Anderen missachtet, verspottet und gering geschätzt zu werden.

So drastisch das Märchen aber die Situation und den Ausgangspunkt seiner Heldinnen und Helden mitunter beschreibt, so bunt und vielschichtig zeigt es die Möglichkeiten aus dieser Situation herauszukommen.

Zwischen den Zeilen klingt unüberhörbar die Botschaft:

»Mach dich auf! Geh‘ deinen Weg. Vertraue der Welt – und du wirst von ihr angenommen. Auch wenn alles noch so aussichtlos scheint: Du wirst es schaffen!«

Das sind die Einflüsterungen, die Kinder intuitiv wahrnehmen – und die wir auch als Erwachsene so gut brauchen können. In einer Zeit, die mit Märchen und der darin geschilderten Welt auf den ersten Blick wenig am Hut hat, wird hier das Zeitlose dieser Erzählungen spürbar:

Sie sind geistige Kraftnahrung – und das nicht nur für das vordergründige Bewusstsein und den Verstand. Ihre Archetypen wirken tief ins Unterbewusste hinein. Genau da aber können verhängnisvolle Fixierungen und Programmierungen heilsam gelöst werden.

Ein paar Beispiele gefällig?

Im Märchen »Die grantige Schicksalsfrau« zieht die Heldin hinaus in die Welt. Sie gilt als »Unglücksrabe« und ist doch fest entschlossen ihr Leben zum Besseren zu wenden. Was folgt ist ein Schicksalsschlag nach dem anderen. Und das im wörtlichen Sinne. Gegen ihre bösartige Schicksalsfrau kommt sie einfach nicht an. Erst eine Wäscherin zeigt ihr, wie der Umgang mit der Schicksalsfrau gelingen könnte. Nur – diese verweigert das Gespräch und weist die Heldin brüsk ab. Es braucht viel Geduld, Ausdauer und Geschick um die Schicksalsfrau umzustimmen. Aber – soviel sei verraten – die Mühe ist nicht umsonst.

Im Märchen »Vom Wasser des Lebens« macht sich z. B. der Held auf, um eben das Wasser des Lebens zu holen – die Essenz. Der Vater hat das nicht geschafft. Deshalb gilt es auch den Vater zu finden. Der junge Bursche hat Glück. Seine Mutter hat ihm alles beigebracht, was es braucht, um im Leben glücklich zu handeln. Er kommuniziert mit allen am Weg – seien es wilde Tiere oder der hilflose Bettler. Niemand wird übersehen.
Dadurch – und nur dadurch – wird das schier unmögliche Vorhaben  dann doch möglich.

Nicht nur, dass das Märchen eine Welt schillernder Gestalten, von den Holden bis zu den Ungeheuerlichen zeigt. Es weist auch immer wieder darauf hin, wie wichtig es ist, all diese Gestalten wahrzunehmen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen.

 

Wer sich intensiv mit Märchen beschäftigt, bemerkt darüber hinaus mit Erstaunen, dass vertraute Motive wie »Das Wasser des Lebens«, »Der Traum von der Brücke«, »Rumpelstilzchen« oder »Amor und Psyche« in den unterschiedlichsten Weltgegenden in verschiedenen Spielarten auftauchen. Natürlich sind sie jeweils in den kulturellen Kontext eingebettet. Das Motiv  ist aber da wie dort unverkennbar das Gleiche.

Barbara Stamer beschreibt das  in ihrem Buch »Dornröschen und der Rosenbey«, das leider nur mehr antiquarisch erhältlich ist, sehr anschaulich.

Märchen sprechen mit ihren archetypischen Gestalten eine Sprache, die in ihrer Vielfalt auf der ganzen Welt verstanden wird .
Bei Erzählprojekten und Workshops in Indien, Russland, dem Iran und vielen anderen Ländern war es für mich immer wieder faszinierend, wie schnell durch die Arbeit mit Märchen aus Menschen, die sich fremd waren, plötzlich Vertraute wurden – und das spielerisch über Sprachgrenzen hinweg.

Apropos Sprachgrenzen und Vielfalt der Sprachen. Zum Abschluss dazu eine Geschichte aus der orientalischen Tradition. Sie bringt Wesentliches auf den Punkt:

Was alle wollen!

Vor Zeiten trafen sich etliche Wanderinnen und Wanderer in einem Wirtshaus. Sie kamen alle von weiß Gott wo. Beim Essen und Trinken saßen sie zusammen und erzählten sich, was sie am Weg schon erlebt hatten und wo sie noch hinwollten. So entdeckten sie: Sie hatten ein gemeinsames Ziel!

Was lag also näher als gemeinsam weiterzuziehen? Sie beschlossen, auch ihr Geld zusammenzulegen. Das ergab einen schönen Batzen. Der würde für alle reichen.
Der Weg war aber weit – sehr weit. Schier endlos zog er sich durch eine Einöde. Nach und nach gingen die Vorräte der Wanderinnen und Wanderer zur Neige. Als sie endlich wieder in eine Stadt kamen, waren der Hunger und der Durst schon groß. Zu ihrer Freude war da ein Markt. Die köstlichsten Früchte wurden bei den Ständen angeboten. Was für ein Anblick!
Allerdings mussten sie feststellen, dass von dem Batzen Geld gerade noch ein einziger Golddukaten übrig war. Ein Golddukaten ist nicht wenig. Aber jetzt hieß es entscheiden: Was sollten sie sich dafür kaufen?

Eine Frau, die Deutsch sprach, meinte: »Ich möchte Weintrauben. Die sind gut für den Durst und gegen den Hunger helfen sie auch.« – »Nein«, sagte der Türke, »ich möchte Üzüm!« – Das gefiel wieder der Jüdin gar nicht: »Also ich möchte Enav!«, sagte sie. »Das beste wird sein, wenn wir Angour essen«, meinte der Perser .
Bald war über das, was für den einen Golddukaten gekauft werden sollte, ein wilder Streit im Gange.

Eine Marktfrau hörte eine Weile zu. Dann meinte sie: »Gebt den Golddukaten mir – und ich verspreche euch: Eine jede und ein jeder von euch wird bekommen was sie und er will!«

Ungläubig starrten die vier die Frau an.

»Mir scheint, du willst uns nur um unser Geld bringen«, meinte eine der Frauen. »Ja«, sagte einer, »mit einem Golddukaten die Wünsche aller zu erfüllen, das ist doch nicht möglich!« – »Das wäre wirklich zu schön, um wahr zu sein«, pflichtete die Nächste bei.
»Schaut mich an«, lachte die Frau, »schaue ich aus wie eine, die etwas Böses im Schilde führt?« – »Na ja«, meinte der Vierte, »probieren können wir’s ja. Nimm den Dukaten und zeig, was du kannst.«
So gaben sie ihr den Golddukaten.

Sie aber füllte einen Korb mit Weintrauben. Jede und jeder von den Vieren bekam davon reichlich.

»Das ist es recht«, lachte die Erste, »wunderschöne, saftige Weintrauben!«
»Üzüm«, freute sich der Türke, »genau wie ich es wollte.« – »Na, wer sagt’s denn«, war auch die Jüdin zufrieden, »herrliche Enav!« – Der Perser aber lachte: »Angour! Die werden mir schmecken!«

Alle hatten bekommen, was sie wollten. Der Streit hatte ein Ende. Glücklich und vergnügt zogen sie weiter.

So ist das Leben: Viele Menschen, viele Sprachen – aber eine Wirklichkeit!

 

 

Die Quellen:

»Vom siebenkröpfigen Hansl« und »Vom Hahnengiggerl« sind nachzulesen in
»Von Drachenfrau und Zauberbaum – Das große österreichische Märchenbuch«, neu erzählt und herausgegeben von Helmut Wittmann, Tyrolia Verlag, Innsbruck, 2020

 

»Die grantige Schicksalsfrau« im Hörbuch
»Von einem, der träumte ein Schmetterling zu sein. Oder umgekehrt!?«, Geschichten vom Träumen, Edition Lebensbaum, Grünau im Almtal, 2014.

 

»Die drei Kaufleute« und »Vom Wasser des Lebens« in
»Das Geschenk der zwölf Monate – Märchen, Bräuche und Rezepte im Jahreskreis«, von Heidemarie, Ursula und Helmut Wittmann, Tyrolia Verlag, Innsbruck, 2018.

»Dornröschen und der Rosenbey«, Motivgleiche Märchen, herausgegeben von Barbara Stamer, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 1985.