Mein Truthahn kann mehr!
Über die Kunst des Erzählens wie die des Zuhörens.
Wer kennt sie nicht, die Geschichte vom Nasreddin Hodscha und seinem Truthahn?
Da bietet einer am Basar einen zierlichen Vogel für teures Geld an. Gleich rennt der Hodscha nach Hause. Er holt seinen großen Truthahn, präsentiert ihn am Basar – und verlangt das doppelte Geld wie der andere.
»Hodscha, was fällt dir ein?«, fragt da einer: »So viel Geld für einen Truthahn? Das zahlt keiner.«
-»Doch!«, meint der Hodscha trotzig, »der dort verlangt für seinen kleinen Vogel nicht wenig. Gemessen an dem zierlichen Vogel ist mein großer, schwerer Truthahn leicht das Doppelte wert.« – »Aber Hodscha«, meint der Mann, »bedenke: Sein Vogel kann reden.« – »Was?«, ist der Hodscha verblüfft, »der kann reden?« – »So ist es!« – Drauf der Hodscha: »Aber mein Vogel kann noch viel mehr!« – »Na, was kann denn der?« – »Mein Truthahn kann – zuhören!«
Was in der Erzählung beim ersten Hören flapsig rüberkommt, trifft den Punkt:
Zuhörenkönnen ist eine Kunst.
Gute Ärztinnen und Ärzte können das, genauso wie gute Therapeutinnen und Therapeuten. Einen anderen Menschen einfach reden lassen und in Ruhe darauf achten, was er oder sie sagt, das machen vor allem die, die wissen worauf es ankommt, wenn man jemand anderen auch wirklich verstehen will. Die meisten können es kaum erwarten das, was da gesagt wird, zu erwidern. Noch während der oder die Andere redet wird an den Formulierungen der Antwort gebastelt. So wird das Gespräch schnell zum Duell Wort um Wort.
Erzählen ist die Kunst, ein inneres Erleben mit jemandem anderen zu teilen.
In mehr oder weniger wohlgesetzten Worten wird vermittelt, was man selbst empfindet. Das braucht weniger Widerrede und vielmehr offene Ohren.
Und natürlich ist wirkliches Erzählen etwas ganz anderes als Vorlesen.
Lesen ist die Wiedergabe eines vorgegebenen Textes. Gute Vorleser/innen können einem Text Leben einhauchen. Das ist eine Kunst für sich. Erzählen aber ist noch viel inniger.
Bei der Fülle an elektronischer Kommunikation hat es heute für viele Menschen einen ganz besonderen Wert. Freilich kommt es auch auf den Stoff an, der da in Worte gefasst wird. Eine faszinierende Geschichte wird auch gestottert noch ihr Publikum finden.
Umgekehrt ist es die Hohe Schule des Erzählens, eine Geschichte, die wenig hergibt, so zu erzählen, dass sie begeistert.
Der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim sagt es in seinem Klassiker »Kinder brauchen Märchen« in einem Satz: »Nur wenn ein Märchen das bewusste und unbewusste Verlangen vieler Menschen enthielt, wurde es immer wieder erzählt und mit großem Interesse aufgenommen.«
Was gibt es Schöneres, als wenn ein Mensch aus sich heraus eine Geschichte
erzählt, die uns erstaunt, verblüfft, inspiriert, zum Lachen bringt und auf neue Ideen?
Das sind die Geschichten, die wert sind, nicht nur erzählt sondern auch gehört zu werden.
Apropos zuhören. Hier gleich noch eine Hodscha-Geschichte:
Eine fragte den Hodscha einmal:
»Hodscha, du als erfahrener, wissender Mann, sag: Was muss man machen, damit man wirklich weise wird?«
»Ganz einfach«, meinte der Hodscha, »da gibt es dreierlei zu beachten.«
»Aha, … dreierlei«, wiederholte die Frau, »dann bitte sag‘ mir: Was ist das Erste, das man beachten muß?«
»Zu aller erst muß man auf das horchen, was erfahrene und weise Männer sagen.«
»Gut«, meinte die Frau, »und was ist das Zweite?«
»Als zweites muß man auf das horchen, was erfahrene und weise Frauen zu sagen haben.«
»Auch gut!«, lachte die Frau, »Und was ist das Dritte, das man beachten muß?«
»Das Dritte«, meinte der Hodscha, ist das Allerallerwichtigste!«
»Oho«, meinte die Frau, »und was ist am Allerallerwichtigsten?«
»Am Allerallerwichtigsten ist«, sagte der Hodscha, »daß du ganz genau auf das horchst, was du selbst sagst.«