Wenn du glaubst es geht nicht mehr …

Wenn du glaubst es geht nicht mehr …

2. September 2020 0 Von Helmut Wittmann

Was trifft auf die Helferinnen und Helfer im Märchen besser zu, als der wohlbekannte Spruch »Wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Lichtlein her … «. Damit ist freilich nicht gesagt, ob das Licht eine herannahende Räuberbande anzeigt,  oder eine einladende Herberge.

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Das aktuelle »Märchenforum«, die Zeitschrift für Märchen und Erzählkultur widmet sich mit einer Fülle von Beiträgen und Märchen dem Thema »Helfer & Gegenspieler im Märchen«. Es war mir eine Freude dazu einen Beitrag über das Glück und Unglück mit Helferinnen und Helfern im Märchen – wie im alltäglichen Leben – zu schreiben.

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Märchen erzählen uns von den Brennpunkten des Lebens. Oft zeigen sie Menschen in Situationen, die alles abverlangen. Entweder leben die Heldinnen und Helden von Haus aus unter unerträglichen Bedingungen. Oder sie werden aus einem wohlbehüteten Dasein herausgerissen. So oder so warten ungeahnte Herausforderungen, die sich oft als übermächtig erweisen.

Wir reden von Heldin und Held, aber eigentlich fragt sich in diesen Momenten ein Häufchen menschliches Elend: Wie soll das denn zu schaffen sein?

Soweit das Märchen. Aber wer hat solche Momente nicht schon selbst erlebt? – Die Verzweiflung ist in der Situation groß und mitunter – im wahrsten Sinne des Wortes – himmelschreiend. Wie im richtigen Leben taucht aber gerade dann, in dieser finstersten aller Stunden, eine Hilfe auf, mit der niemand rechnen würde.

Der weibliche Archetyp der Helferin ist die Fee oder auch die Waldfrau. Meist helfen sie denen, die selber schon bewiesen haben, dass sie für die Nöte anderer ein offenes Herz haben. Denn nur wer bereit ist selber zu helfen, ist auch bereit Hilfe zu empfangen. Man denke nur an »Frau Holle«*, das Märchenmotiv »Von den drei Wünschen«**, oder das Siebenbürger Zaubermärchen »Die Tochter der Blumenkönigin«***.

Auch die Hilfe von Tieren wird den Heldinnen und Helden oft erst dann zuteil, wenn sie selber etwas für die Tiere getan haben. Wem fällt da nicht gleich »Das Waldhaus«* ein.

Bei den männlichen Archetypen sind die hilfreichen Geister vor allem Zwerge. Deren Hilfe ist freilich oft zweischneidig. Nehmen wir das Motiv vom Rumpelstilzchen*. In der Grimm‘schen Fassung kommt die Müllerstocher, durch die Angeberei ihres Vaters einerseits und die Goldgier des Königs andererseits, in eine verzwickte Lage. Sie weiß gar nicht so recht wie ihr geschieht. Eines aber weiß sie mit Sicherheit: Sie kann kein Stroh zu Gold spinnen.

Illustration: Anna Vidyaykina, aus dem Band »Von Drachenfrau und Zauberbaum – Das große österreichische Märchenbuch, Tyrolia Verlag

 

 

 

Im niederösterreichischen Märchen »Vom Winterkölbl«****  ist es die existenzielle Notlage, die den Vater dazu bringt, die Tochter in einer Verzweiflungstat mitten im Wald ihrem Schicksal zu überlassen. Der Wald ist ein Bild für die Wirrnisse und die Undurchschaubarkeit der großen weiten Welt und für die Kräfte, die da wirken. Wie soll sich das arme Mädchen darin zurechtfinden?

Im einen wie im anderen Märchen wird Hilfe durch einen Zwerg zuteil. Im »Rumpelstilzchen«* macht er das schier Unmögliche möglich. Natürlich verlangt er dafür – zurecht – auch seinen Preis.
Im »Winterkölbl« sichert der Zwerg nicht nur das Überleben, sondern vermittelt der Heldin auch wertvolles Wissen über die Zusammenhänge der Natur. Ja, er verhilft ihr sogar zu einer unverhofften beruflichen Perspektive und einem gewaltigen sozialen Aufstieg, durch die Vermittlung an den königlichen Hof.

Schön und gut, wenn man zu der Kraft findet, die einem im Leben weiterbringt. Irgendwann führt aber kein Weg daran vorbei diese Kraft nicht nur erkennen, sondern auch benennen zu können. Erst dann kann sie voll und ganz ins eigene Leben integriert werden.
Die Gebrüder Grimm sind in den späteren Fassungen des Märchens wohl der Lust am literarisch Spektakulären erlegen. So haben sie dem Rumpelstilzchen ein Ende mit Karacho beschert. In den früheren Versionen des Märchens taucht dieser Abgang in zwei Körperteilen nicht auf.
Im »Winterkölbl« wandelt sich der geheimnisvolle »Graue« zum väterlichen Freund. Immerhin verkörpert er die Kraft, die der Heldin im Leben weitergeholfen und viel zu sagen hat. Sich diese Kraft zum Freund zu machen ist wohl nur schlau. Aber auch »Vater Winterkölbl« weiß, dass seine Welt nicht die des höfischen Treibens ist, sondern draußen in der Tiefe des Waldes. Nicht das Zusammenfügen, sondern der Austausch zwischen den Welten, zwischen Bewusstem und Unterbewusstem, ergibt Sinn.

Illustration: Anna Vidyaykina, aus dem Band »Von Drachenfrau und Zauberbaum – Das große österreichische Märchenbuch, Tyrolia Verlag

Besonders anschaulich und ausführlich wird das im steirischen Zaubermärchen »Vom Hahnengiggerl«**** vor Augen geführt. Hier ist die Heldin, die Annerl, ein zwar verzweifeltes, aber dabei selbstbewusstes und klardenkendes Mädchen. Ein Prinz muss her um die Not zu wenden. Wenn’s aber auch ohne Prinz geht, also »nur« mit Reichtum, umso besser.
Gesagt, getan. Sie ruft mit Hilfe der Waldmutter die Kraft, die ihr zu Wohlstand verhelfen kann – den Hahnengiggerl. Kaum ist der da, wird seine Hilfe nicht um jeden Preis hingenommen. Nein, zuerst wird verhandelt!
Die Medien sind voll von Leuten, die für Geld und Reichtum nicht nur ihre Seele sondern auch die eigene Großmutter verkaufen würden.
Nicht so im Märchen »Vom Hahnengiggerl«. Da erklärt die Heldin: Das kommt überhaupt nicht in Frage! Die Annerl ist trotz aller Armut nicht bereit ihre Seele zu opfern. Zitat: » … dann würde mich der ganze Reichtum nicht freuen!«
Wie weise, und wie selbstbewusst.
Der Hahnengiggerl lässt sich darauf ein. Sie muss sich »nur« seinen Namen merken und ihn nach sieben Jahren noch wissen. Der Zwerg weiß wohl um die Vergesslichkeit der menschlichen Natur.
Und so kommt es, wie es kommen muss: Nach sieben Jahren voll turbulenter Ereignisse ist der Name vergessen. Erst als sich die Annerl wieder auf das Unterbewusste – und auch auf seine Schrecken – einlässt, erfährt sie den Namen aufs Neue. Die ins Übermächtige angewachsene Kraft wird durch die Benennung fass- und beherrschbar. Sie verliert ihren Schrecken und wird wieder das, was sie im Kern immer war – ein zauberkundiger Zwerg.

Die Zeitspanne von sieben Jahren ist dabei kein Zufall. In dieser Zeit erneuert sich jede unserer Zellen. Nach sieben Jahren sind wir also ein vollkommen neuer Mensch. Der sollte dann noch genau wissen, womit alles anfing und was den ursprünglichen Antrieb im eigenen Leben ausmacht.

Gleiches verlangt auch der Helfer im Tiroler Volksmärchen »Vom Zistl im Körbl«****. Er erscheint der verzweifelten Heldin als grüner Jäger. Mit ihm spannt sich der Bogen zu orientalischen Überlieferungen.

In den Geschichten der Sufi-Tradition taucht in entscheidenden Lebenssituationen eine engelsgleiche leuchtende Gestalt auf. Sie wird Khidr, der Grüne, genannt und personifiziert das Hilfreiche an sich. Vor allem aber ist Khidr der innere Führer. Erscheint er einem im Traum, so gilt das als besonderes Zeichen und Glück. Deshalb wird jede Aussage von Khidr auch hoch geschätzt. Zum Beispiel taucht er in der Sufi-Geschichte von Moschud, dem Mann mit dem unerklärlichen Leben, auf.**** Mit seinen Anweisungen verändert Khidr das Leben von Moschud radikal.
Erstaunlicherweise wird die Gestalt des Khidr von Moslems, Zoroastriern, Hindus, Jesiden und orientalischen Christen gleichermaßen verehrt. Das spricht dafür, dass dieser Archetyp tief in der menschlichen Seele verwurzelt ist.
Zurück zum »Zistl im Körbl«. Da nimmt der grüne Jäger die verzweifelte Heldin bei der Hand und eröffnet ihr den Zugang zu den Schätzen des Wunderbaums. Damit kann sie vorerst zwar noch recht wenig anfangen, findet damit dann aber ihr Glück.
Die Gestalt des grünen Jägers taucht in einigen abendländischen Überlieferungen auf. Allerdings wurde diese Gestalt im Zug der Christianisierung oft verteufelt. Aus dem »grünen Jäger« als hilfreichem Führer zu den Schätzen der Anderswelt wurde der Teufel, der Menschen in seine Gewalt bringen will.

Wer sich auf Märchen einlässt spürt aber schnell, wo es gilt zivilisatorischen Schutt wegzuräumen, um wieder den Zugang zur Tiefe des Lebens zu finden. Wenn man sich dabei immer wieder vergegenwärtigt, woher man kommt, und worum es im eigenen Leben wirklich geht, ist man am besten Weg. Das ist der rote Faden, an dem man notfalls auch »zurückhanteln« kann, sollte man sich einmal verrannt haben.

Wer es darüber hinaus auch noch versteht, sich »den Grünen« zum Freund zu machen, hat allen Grund den Herausforderungen am Lebensweg gelassen entgegenzugehen.

 

Quellen:

*»Frau Holle«, »Das Waldhaus« und »Rumpelstilzchen« in »Kinder- und Hausmärchen, Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm«, Heinz Rölleke, Reclam, 2014

**»Die drei Wünsche« in »Märchenforum«, Nr. 81, zu »Wunsch und Wirklichkeit«

***»Die Tochter der Blumenkönigin« in »Das Geschenk der zwölf Monate«, Helmut Wittmann, Tyrolia, 2018»Die Märchen der Brüder Grimm – Eine Einführung«, Heinz Rölleke, Reclam, 2004

**** in »Von Drachenfrau und Zauberbaum – Das große österreichische Märchenbuch«, Tyrolia, 2020
***** in »Wo der Glücksvogel singt – Märchen und Schelmengeschichten für alle Zeiten des Lebens«, Ibera Verlag, 2017