Vom Kraut Widertod

Vom Kraut Widertod

21. Juni 2020 0 Von Helmut Wittmann

Die Gießenbachmühle liegt Donauabwärts unterhalb vom Grein gleich neben der Donau-Bundesstraße. Von hier kann man am Donausteig zum Stillen Stein wandern. Die Wanderung führt durch eine idyllische Landschaft. Umso reizvoller ist‘s, wenn man die Sage dieses Ortes kennt:

 

In der Gegend von Grein lebte dort wo heute die Gießenbachmühle am Weg zum Stillen Stein steht  eine schwerkranke Müllerin mit ihrer Tochter.

Geld hatten die zwei nicht viel. Und das bisschen, das sie hatten ging für Doktoren und ihre Medizin drauf. Doch wirklich helfen konnte der Mutter keiner. Das Mädchen kümmerte sich aufopfernd um ihre Mutter. Aber so gut sie auch für sie sorgte: Es half alles nichts. Der Müllerin ging es immer schlechter. Es war zum Verzweifeln!

Einmal kam ein alter Mann zu der Mühle. Der bat das Mädchen um etwas zu Essen. »Viel kann ich dir nicht geben.« sagte das Mädchen, »Wir haben ja selber nichts.« Und sie klagte ihm den ganzen Kummer mit der Krankheit ihrer Mutter. Der alte Mann kaute bedächtig an dem Stück Brot, das sie ihm zugesteckt hatte. Dann sagte er: »Hör zu: Das Einzige was deiner Mutter wohl helfen kann ist das Kraut Widertod. Es wächst beim Wasserfall in der Giessenbachschlucht. Damit es wirkt musst du es jedoch beim vollen Mondschein brocken[1]

Der alte Mann zog bald darauf weiter. Das Mädchen aber überlegte nicht lange. In der nächsten Vollmond-Nacht stahl sie sich – als die Mutter schon tief und fest schlief – aus dem Haus. In der klaren mondhellen Nacht war der Weg in die Schlucht gut zu sehen. Angst kannte sie keine. »Wer weiß, vielleicht kann ich der Mutter mit dem Kraut wirklich helfen!« sagte sie sich. Und wenn sie an den alten Mann dachte war sie sich sicher, dass an dem was er gesagt hatte, etwas dran sein musste. Entschlossen kletterte sie die Felsen hinauf zum wilden Giessenbach.

Mit einem Mal stand da ein graues Mandl vor ihr. Das schaute sie freundlich an und streckte ihr die Hand entgegen. »Hab keine Angst« sagte der Zwerg, »Ich weis warum du hier bist. – Komm mit und dir wird geholfen werden.«

Das Mädchen nahm die dargebotene Hand. – Da tat sich vor ihnen im Felsen ein Tor auf. Und was war da zu sehen!? – Keine finstere Höhle. Nein! – Ein prächtiger Garten! – Hand in Hand gingen sie durch das Felsentor in die Welt im Berg.

Blumen blühten da in allen Farben. Ein feiner würziger Duft lag in der Luft. Fröhliches Vogelgezwitscher war zu hören. Da und dort waren auch Kinder zu sehen. Vergnügt spielten sie miteinander. Das Mandl brachte das Mädchen zu einer grossen Linde. Drunter sass eine Frau mit langen flachsblonden Haaren und einem Gewand aus Leinen. Am Kopf trug sie einen Kranz aus wilden Rosen. Um sie herum waren junge Frauen, die mit ihr lachten und scherzten.

»Das ist die Königin im Berg.« sagte das Mandl zum Mädchen, »Sie kann dir zum heilenden Kraut für deine Mutter verhelfen.«

Bedächtig und zögernd ging das Mädchen auf die Königin zu. »Komm nur her!« rief ihr diese entgegen, »Gesell‘ dich ein wenig zu uns. Die Gnade hierher in unser Reich im Berg zu kommen wird nicht vielen zuteil. – Hier kannst du vergnügt leben und wirst weder Hunger noch Durst leiden. Auch Krankheit und Tod kennen wir hier nicht. Jeder Tag ist voller Freude und Lust. Du bist hier im Land der ewigen Jugend.« – »Aber was ist mit meiner Mutter?« stammelte das Mädchen. »Hierher kommen nur Menschen die ein unschuldiges und reines Herz haben.« sagte die Königin, »Deine Mutter kann nicht herein.« – »Aber dann muß ich zurück zu ihr.« sagte das Mädchen, »Ich kann sie doch nicht im Stich lassen. Sie braucht das Kraut Widertod.«

»Willst du wirklich ein Leben ohne Kummer und Sorgen für die Gesundheit deiner Mutter tauschen?« fragte die Königin. »Ja« sagte das Mädchen entschlossen. »Willst du dir das nicht noch ein wenig überlegen!?« – »Nein, da gibt es nichts zu überlegen.« – »Dann wirst du das heilende Kraut bekommen, und dein gutes Herz soll belohnt werden.« Die Königin segnete das Mädchen und gab dem Zwerg einen Wink. Der brachte das Mädchen zurück zum Felsentor. Dort legte er ihr ein Kraut in den Korb, murmelte ein paar Worte, und war im nächsten Moment verschwunden. Auch vom Felsentor war plötzlich nichts mehr zu sehen. Das Mädchen aber war so erschöpft, dass sie sich auf der Stelle niedersetzen musste und in einen tiefen Schlaf versank.

Als sie wieder erwachte, wußte sie nicht recht: Hatte sie das alles geträumt? Oder war sie wirklich in dem geheimnisvollen Reich im Berg gewesen? – Der Morgen graute. Und eines wußte sie gewiss: Ihre Mutter brauchte sie. Flugs rappelte sie sich auf und machte sich auf den Heimweg. Sonderbar! – Der Bach war verschwunden. Nur aus der Tiefe war ein Rauschen zu hören. Darüber lag ein mächtiger Stein.

Aber jetzt war keine Zeit zum Nachdenken. So schnell wie sie nur konnte kletterte sie über den Stein und hinaus aus der Schlucht. Vor der Mühle kam ihr die Mutter entgegen. Über Nacht war sie wie durch ein Wunder gesund geworden. Jetzt hatten sich die Zwei viel zu erzählen.

Das Mädchen konnte das, was sie erlebt hatte, immer noch nicht so recht glauben. Zum Beweis und um sicher zu gehen, dass das alles wirklich kein Traum gewesen war, machte sie den Korb auf! – Und was leuchtete ihnen da entgegen!? – Gold und Edelsteine! –  Das war also die Belohnung von der die Feenkönigin im Berg gesprochen hatte.

[1] brocken = pflücken

Nachzulesen ist diese und viele andere Sagen auch im Band »Sagen aus Oberösterreich«