Vom Glücksvogel

Vom Glücksvogel

20. März 2020 0 Von Helmut Wittmann

Mein Glück war es, dass meine (Adoptiv)Mutter mir und den Kindern im Dorf Geschichten erzählt hat – aus ihrer Kindheit und was ihr halt sonst noch in den Sinn gekommen ist. Als sonst vielbeschäftigte Frau ist sie dabei meist spazieren gegangen, hat gestrickt und uns Kindern nebenbei erzählt. Später waren es orientalische Geschichten, die mich Jugendlichen begeistert haben. Auf ihren Spuren machte ich mich auf in die Türkei um dort nicht nur die Lust am Zuhören, sondern auch am Erzählen zu entdecken. Dabei lag es für mich aber nahe die heimischen, alpenländischen Quellen zu nutzen und diese – meist vergessenen – Überlieferungen wie Zaubermärchen und Sagen auszugraben und neu zu erzählen. Was nicht heißt, dass mich Überlieferungen aus anderen Ländern nicht mehr interessierten.
In einer Sammlung aus Zentralasien kam mir diese Geschichte unter. Sie beeindruckte mich so sehr, dass sie auch der Sammlung mit »Volksmärchen und Schelmengeschichten für alle Zeiten des Lebens« den Namen gab. Die grandiose Zeichnung des Glücksvogels ist übrigens Margit Haager zu verdanken.

Das Märchen in Mundart:

The bird of happiness – The fairy tale in English:

Vor langer, langer Zeit, war‘s gestern oder war‘s heut, da lebte einmal eine große Familie. In dieser Familie fehlte es an nichts. Und das war kein Wunder: Im Haus der Familie hatte sich nämlich ein Glücksvogel niedergelassen.
Tag für Tag sang der für sie. Und mit seinem Gesang kehrten im ganzen Haus Wohlstand und Zufriedenheit ein.

Einmal aber sagte der Glücksvogel zum Ältesten im Haus:
»Ich bin jetzt schon lange bei euch. Es wird Zeit, daß ich wieder weiterziehe. Bevor ich fortfliege will ich euch aber noch einen letzten Wunsch erfüllen. Sag mir: Was wünscht ihr euch?«
Da überlegte der Alte lange.
»Gib uns ein wenig Zeit.« sagte er schließlich, »Wir müssen uns das Ganze in Ruhe überlegen. In drei Tagen will ich dir gerne sagen, was wir uns wünschen.«
»Gut«, meinte der Glücksvogel, »so soll es denn sein.« – Der Älteste rief jetzt die ganze Familie zusammen. »Hört zu«, sagte er, als alle beisammensaßen, »Der Glücksvogel will uns verlassen. Bevor er weiterfliegt wird er uns aber noch einen Wunsch erfüllen. Was sollen wir uns also wünschen?« – Da überlegten sie alle miteinander hin und her.

»Am besten wünschen wir uns einen großen Besitz, mit weiten Waldungen, Wiesen und viel Vieh.«, meinte einer von den Söhnen, »Wenn wir das alles haben, dann wird es uns auch künftig an nichts fehlen.«
Der Wunsch gefiel auch den Anderen nicht schlecht, aber richtig glücklich waren sie damit dann doch nicht.

»Nein«, sagte eine von den Töchtern, »wünschen wir uns lieber ein Haus. Eines, das voll ist mit prächtigen Gewändern, edlen Stoffen, feinen Gewürzen, herrlichen Möbeln und vielen anderen kostbaren Dingen. Damit können wir Handel treiben. So leben wir auch in Zukunft gut.«
Auch dieser Wunsch kam nicht schlecht an. Aber restlos begeistert waren die Anderen in der Familie davon dann doch nicht. Weiter überlegten sie hin und her: Was sollten sie sich wünschen? – »Ich hab’s!«, rief schließlich einer: »Wünschen wir uns doch ein Schloß für uns alle. Das soll voll sein mit Schätzen aus Gold und Silber, mit Bergen aus Diamanten und Edelsteinen. Von einem solchen Reichtum können wir unser Lebtag lang zehren. Generationen nach uns werden damit noch ausgesorgt haben.«
Auch der Wunsch gefiel allen nicht schlecht. Aber so richtig zufrieden waren sie auch damit nicht.
Schließlich fragte der Älteste: »Jetzt sagt einmal: Sind überhaupt alle da!? Mir scheint, es geht jemand ab.«
»Ja, die jüngste Schwiegertochter, die fehlt!«, rief eine Frau, »Die ist noch unten am Bach bei der Arbeit.«
»Dann holt sie!«, sagte der Alte.
Bald darauf kam die jüngste Schwiegertochter dazu. Der alte Mann schilderte ihr worum es ging.
»Was denkst du?«, fragte er sie schließlich: »Was sollen wir uns vom Glücksvogel wünschen?«

»Das ist doch ganz einfach!«, meinte die junge Frau, »Wünschen wir uns doch seine Freundschaft! Wenn der Glücksvogel uns seine Freundschaft schenkt, dann werden wir auch weiterhin ein glückliches Leben haben.«
Da waren alle, wie sie da beisammensaßen, baff erstaunt. »Das ist es!«, riefen sie.
»Ja«, sagte der Älteste: »Das ist wohl wirklich das Beste, das wir uns wünschen können.« Begeistert stimmten alle zu.

So ging der alte Mann zum Glücksvogel.
»Wißt ihr jetzt, was ihr euch wünscht!?« fragte ihn der.
»Ja« sagte der alte Mann, »Wir wünschen uns deine Freundschaft. Mehr wollen wir nicht, und mehr brauchen wir nicht.« – Da begann der Glücksvogel mit einem Mal zu Singen. Wunderschön sang er. So schön, daß es kaum zu beschreiben ist:
»Oh, wie weise und wie klug habt ihr gewählt. Ich soll euch weiterhin meine Freundschaft schenken? – Wo ihr mich darum bittet, will ich das gerne aufs Neue tun. Aber wer möchte von seinen lieben Freunden getrennt sein? Bei Menschen, die man von Herzen gerne hat, bei denen bleibt man. So will ich denn weiterhin bei euch bleiben.«

Der Glücksvogel blieb also bei der Familie. So hatten sie weiterhin ein Leben in Zufriedenheit, Wohlstand, Gesundheit und Glück.
Geb‘s Gott, daß der Glücksvogel für dich und für mich auch einmal singt – und das recht lange. Man muß ihn halt nur um seine Freundschaft bitten. ;-{)

aus der Sammlung »Wo der Glücksvogel singt – Volksmärchen und Schelmengeschichten für alle Zeiten des Lebens«, zusammengetragen und neu erzählt von Helmut Wittmann, Ibera Verlag, Wien