Glück oder Unglück, wer weiß?

Glück oder Unglück, wer weiß?

19. April 2020 0 Von Helmut Wittmann

Die Maßnahmen zur Einschränkung des Corona-Virus haben unser Leben binnen kürzester Zeit auf den Kopf gestellt. Es gilt sich in anderen Lebensumständen zurechtzufinden. Da kann diese Überlieferung sehr hilfreich sein. Sie stammt ursprünglich aus China, hat aber wohl Menschen auf der ganzen Welt etwas zu sagen.

Vor Zeiten lebte ein Bauer. Der hatte einen prächtigen Schimmel. Weitum erzählten die Leute wie unvergleichlich dieses Pferd sei. Sogar am kaiserlichen Hof war die Rede davon. So war es kein Wunder, dass eines Tages am Hof des Bauern ein Bote des Kaisers auftauchte. Der kam mit einem prächtigen Gefolge und erklärte dem Bauern: »Mein Herr, seine Majestät, der Kaiser, hat von deinem Schimmel gehört. Seine Majestät ist bereit den Schimmel zu kaufen. Du bekommst dafür einen Sack voll Gold.«
Der Bote und seine Gefolge hatten einen Haufen Leute angelockt. Die staunten nicht schlecht. »Was für ein Glück für dich!«, riefen sie dem Bauern zu, »Ein Sack voll Gold für ein Pferd! Greif zu, damit hast du ausgesorgt!«
»Ich danke dir für das Angebot«, meinte der Bauer zum Boten, »aber, sag deinem Herrn: Ich verkaufe den Schimmel nicht!«. Da staunte nicht nur der Bote. Auch die Leute rundum schüttelten ungläubig die Köpfe: »Wie kann man denn so dumm sein«, meinten sie, »und so ein Angebot ausschlagen?«.

Der Bote zog ab. Es vergingen ein paar Tage. Da stand er wieder vor dem Hof des Bauern. »Seine Majestät, der Kaiser, schickt mich wieder zu dir.«, meinte er zum Bauern, »Er will den Schimmel unbedingt kaufen und bietet dir dafür zwei Säcke voller Gold!« – »Unglaublich!«, murmelten die Leute rundum. »Was für ein Glück! Zwei Säcke voll Gold für ein Pferd!« – »Greif zu!«, drängten sie den Bauern, »So eine Gelegenheit kommt nicht wieder!« – »Nein.«, sagte der Bauer, «Ich verkaufe den Schimmel nicht – auch nicht für zwei Säcke voller Gold.«
Die Leute konnten das nicht fassen. Der Bote aber meinte nur: »Ich habe die kaiserliche Befugnis, dir für den Schimmel sogar drei Säcke voller Gold zu bieten! – Ist der Kauf damit perfekt?«
Die Leute schüttelten nur ungläubig die Köpfe. Drei Säcke voller Gold für ein Pferd! Was für ein Glück! Wann hat man schon so etwas erlebt?
Der Bauer aber sagte nur: »Der Schimmel ist für mich wie ein Freund – und einen Freund verkauft man nicht.« So musste der Bote unverrichteter Dinge wieder abziehen.

Die Zeit verging. Ein paar Tage später war der Schimmel über Nacht von der Weide verschwunden. Keine Spur war mehr von ihm zu finden. »Was für ein Unglück!«, sagten da die Leute, »Drei Säcke voller Gold hättest du für das Pferd bekommen. Jetzt hast du nichts – weder das Pferd, noch das Gold!« Der Bauer aber meinte nur: »Glück oder Unglück, wer weiß?« – »Nein, nein, nein!«, sagten die Leute, »Wenn das, nicht ein Unglück ist, was dann?«

Eine Woche verging. Da kam der Schimmel wieder zurück. Sieben wilde Stuten brachte er mit. Da staunten die Leute nicht schlecht. »Was für ein Glück!«, lachten sie, »Jetzt hast du also deinen Schimmel wieder – und sogar sieben wilde Stuten dazu!« Der Bauer aber meinte wieder nur: »Glück oder Unglück, wer weiß?« – »Nein, nein, nein!«, sagten die Leute, »Das ist doch ein großes Glück! Jetzt hast du deinen Schimmel wieder und sieben wilde Stuten dazu. Wenn das nicht ein Glück ist, was dann?«

Der einzige Sohn vom Bauern ritt die Stuten zu. Eine war besonders wild. Kaum, dass er auf ihr saß, stieg sie auf und warf ihn in hohen Bogen ab. Dabei brach sich der Bursch alle zwei Füße.
»Was für ein Unglück!«, sagten die Leute, »Jetzt hat sich der einzige Sohn alle zwei Haxen gebrochen. Wenn das nicht mehr richtig zusammenwächst, dann bleibt er sein Lebtag lang ein Krüppel.« Der Bauer aber meinte nur: »Glück oder Unglück, wer weiß?« – »Also, wenn das kein Unglück ist, wenn sich der eigene Sohn alle zwei Haxen bricht, was denn dann?«, riefen die Leute. Einige meinten, dass der Bauer doch ein armer Narr sei. »Der kapiert das, was rund um ihn passiert, einfach nicht mehr. Offenbar ist er nicht ganz richtig im Kopf.«, murmelten sie hinter vorgehaltener Hand, »Sonst würde er ja auch nicht so verrückt daherreden!«

Die Zeit verging. Da kam wieder ein Bote vom kaiserlichen Hof ins Dorf. Der verkündete: »Ein Krieg ist ausgebrochen. Alle wehrfähigen jungen Männer werden deshalb eingezogen zum kaiserlichen Heer!« So geschah es auch. Nur einer musste nicht mit: Der Sohn vom Bauern. Mit gebrochenen Füßen konnte er schlecht in den Krieg ziehen.
»Was für ein Glück!«, sagten da die Leute, »Unsere Söhne müssen mit dem Heer in die Schlacht. Der deine kann zu Hause bleiben und seine Brüche auskurieren. Wenn die gut verheilen ist er wieder pumperlgesund, während unsere Söhne im Krieg Kopf und Kragen riskieren, wenn nicht sogar ihr Leben lassen.«
Da hob der Bauer nachdenklich den Kopf und meinte nur: »Hört mir doch endlich auf mit Glück und Unglück! Ihr betrachtet das Leben immer nur wie durch ein Schlüsselloch. Sagen wir doch einfach: Eure Söhne müssen zum Heer. Der Meine bleibt zu Hause. Ob das ein Glück ist oder ein Unglück, das werden wir alles noch sehen!«.