Das kostbarste Geschenk

Das kostbarste Geschenk

8. März 2020 2 Von Helmut Wittmann

Wer glaubt, dass Frauen im Märchen, wie Dornröschen oder Aschenputtel, immer nur als Duldende und Erleidende vorkommen, irrt gewaltig. Das folgende Volksmärchen ist nur ein Beispiel von vielen.

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Dieses Märchen ist als Beitrag zum Weltfrauentag am 7. März 2020 im Magazin »Hoamatland« der Tageszeitung »Oberösterreichische Nachrichten« erschienen. Aber natürlich ist das eine Geschichte für alle Tage des Jahres – und alle Menschen.

Hier wird das Märchen von Jasmina Maksimovic und mir zweisprachig serbisch-(ober)österreichisch erzählt:

Jasmina Maksimovic stammt aus Serbien. Sie ist in Deutschland groß geworden und hat in Salzburg Germanistik studiert. Seit rund 10 Jahren erzählen wir gemeinsam bei Erzählkunstfestivals und Erzählprojekten an Schulen.
Bei den Proben zu einem neuen zweisprachigen Programm hat mich Jasmina auf dieses Märchen vom Balkan hingewiesen.

Vor langer, langer Zeit, war’s gestern oder war’s heut‘, da lebte einmal ein König. Der hatte drei Töchter. Alle drei waren sie gescheit und tüchtig. Das freute den Vater. Aber umso schwieriger war auch die Entscheidung: Welche von den drei Töchtern sollte nach ihm Königin werden?

Eines Tages fasste der König einen Entschluss und rief die drei Töchter zusammen. »Hört zu«, sagte er, »jede von euch bekommt von mir hundert Golddukaten. Zieht hinaus in die Welt und macht damit was ihr wollt. Die aber, die in einem Jahr das kostbarste Geschenk bringt und damit am meisten aus dem Gold gemacht hat, soll nach mir Königin werden.«

So war es ausgemacht. Die Prinzessinnen zogen mit dem Gold hinaus in die Welt. Nach einem Jahr kamen sie wieder zurück. Jetzt war der König gespannt. Was würden sie mitbringen?

Gleich fragte er die Älteste: »Na, was hast du aus den hundert Golddukaten gemacht?« – »Vater, ich habe mit dem Geld Waren gekauft und gehandelt. Unten im Hof stehen etliche Wagen. Die sind schwer beladen mit Kostbarkeiten aller Art.« Das gefiel dem König. In einem Jahr hatte sie aus hundert Golddukaten immerhin ein gewaltiges Vermögen geschaffen.

»Und – was ist mit dir?«, fragte er drauf die mittlere Tochter. – »Vater, ich habe mit dem Gold Samen, Setzlinge und Pflanzen gekauft. Dann habe ich Ländereien gepachtet und dort das alles angebaut. So gab’s im Herbst eine reiche Ernte. Unten im Hof stehen die Wagen. Sie sind schwer beladen mit Feldfrüchten, Gemüse, Obst und alldem, was wir sonst noch draus gemacht haben.«

Das gefiel dem König. Ja, auch diese Tochter hatte es verstanden aus dem, was er ihr gegeben hatte, etwas zu machen.

»Und jetzt zu dir«, wandte er sich der dritten Tochter zu, »was hast du mitgebracht?« – »Diese Frucht der Erkenntnis«, sagte sie, und gab dem König einen Apfel. Der war prächtig und schön anzuschauen, aber verglichen mit dem, was die zwei älteren Töchter vorgezeigt hatten, war er natürlich nichts.

»Einen Apfel? – Nur einen Apfel?«, fragte der König ungläubig, »Hundert Golddukaten für einen Apfel, das ist wohl ein sehr schlechter Handel.«
»Und doch ist dieser Apfel viel mehr wert«, lachte die Prinzessin. »Ein Apfel ist ein Apfel.«, sagte der König, »Und wenn er noch so gut schmeckt und noch so gesund ist: Hundert Golddukaten ist er wohl nicht wert!« – »Hör zu, Vater«, sagte da die Prinzessin, »ich bin hinaus gezogen in die Welt und habe das Gold genutzt, um so viel zu lernen und so viel zu sehen und so viel an Erfahrung zu sammeln, wie ich nur konnte. Und so wie dieser Apfel nahrhaft ist, heilsam und bekömmlich, so nährt auch dieses Wissen alles, was es für ein gutes und glückliches Leben braucht. Das ist wohl mehr wert, als alle Güter dieser Welt.«

»Das ist ein großes Wort«, meinte der König. »Dann sag mir, Tochter: Was ist das Schönste, was ist das Reichste und was ist das Kostbarste auf der Welt? – Mit deinem Wissen sollte dir die Antwort nicht schwerfallen.«

»Das ist ganz einfach«, lachte die Tochter. »Das Schönste auf der Welt ist der Frühling: Wenn nach dem Winter alles keimt und sprießt, wenn die Blumen und die Bäume blühen, wenn die Luft lau ist und die Vögel wieder singen, was könnte da schöner sein?« – »Da hast du wohl recht«, meinte der König. »Stimmt«, sagten auch die anderen Töchter, »da muss man ihr recht geben.« –

»Und was ist das Reichste auf der Welt?«, fragte der König weiter. – »Das ist die Ernte im Herbst«, sagte die Tochter vergnügt, »wenn all das, was im Frühjahr ausgesät und gepflanzt wurde, aufgeht und die Früchte überreich in den Bäumen hängen, dann ist das wohl der größte Reichtum!« – »Auch das trifft zu«, meinte der König. »Ja«, meinten ihre Schwestern, »da kann man nichts dagegen sagen.« – »Und was ist das Kostbarste auf der Welt?« – »Das Kostbarste ist wohl für jeden Menschen heil und gesund zu sein«, sagte die Prinzessin ohne lange zu überlegen.

Auch diese Antwort beeindruckte den Vater und auch ihre Schwestern. Die nickten zustimmend. »Ja«, sagte der König schließlich, »mir scheint, du hast das Geld wohl wirklich gut angelegt. Damit hast du einen Schatz gewonnen, den dir niemand nehmen kann. Diese Erfahrungen und dieses Wissen werden dir helfen das Land als Königin zu regieren.«

So wurde denn die jüngste der Töchter zur Königin ernannt. Sie wusste aber auch, wie schwer es für einen einzelnen Menschen ist, ein Land weise und gerecht zu regieren. Deshalb teilte sie ihre Macht mit ihren Schwestern.
Der Ältesten übertrug sie die Aufgabe dafür zu sorgen, dass die Wirtschaft im Land florierte. Die Mittlere hatte darauf zu achten, dass alles aufs Beste bestellt war, dass es Mensch und Tier an nichts mangelte und alle genug zu essen hatten. So regierten sie die drei noch lange weise und gerecht, und wer weiß, wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie vielleicht heute noch!